Die Blütezeit
Von 1899 bis 1938 war die Synagogengemeinde als öffentlich-rechtliche Körperschaft eingetragen. Diese Jahre, zumindest bis 1934, waren eine Epoche, in der das Saarbrücker jüdische Gemeindeleben blühte. Für die Gottesdienste an den Hohen Herbstfeiertagen musste, weil der Platz in den zwanziger Jahren in der Synagoge nicht mehr ausreichte, zusätzlich der Saalbau am Neumarkt angemietet werden; dort begleitete der Kinderchor der Gemeinde den Gottesdienst musikalisch.
Dank der Verordnung vom 31.03.1925, die alle Glaubensgemeinschaften hinsichtlich der Einziehung der Kultussteuern durch den Staat gleichstellte, flossen 1/11 der Einkommen- bzw. Lohnsteuer ihrer Mitglieder von da an in die Kasse der Synagogengemeinde, wie es bisher bei den christlichen Kirchen schon der Fall war.
Was war das für eine Gemeinde, die Synagogengemeinde Saarbrücken, von der Jahrhundertwende bis in die Mitte der 30er Jahre?
Die vorherrschende religiöse Orientierung war diejenige, des damals in Deutschland erst kürzlich entstandenen sogenannten liberalen oder Reformjudentums, in Saarbrücken allerdings in gemäßigter Form. Die Gottesdienste in der Synagoge wurden von liturgischer Musik (Harmonium) und einem vierstimmig-gemischten Chor aus ca. 20-25 Männern und Frauen begleitet und die Rabbiner predigten auf Deutsch.
Chorleiter und Organisten am Harmonium der Saarbrücker Synagoge waren: bis 1922 Irvin Eppstein, der im Hauptberuf Versicherungsvertreter war, und danach Léon Bloch von 1923 bis 1935.
Als Kantoren waren angestellt: Oberkantor und Religionslehrer Julius Lissner (1925 in Saarbrücken verstorben), Kantor Isaak Wolfermann (von ca. 1900 bis Oktober 1931), Oberkantor Loewy von 1930 bis 1936, Siegmund Friedemann als 2. Kantor, Religionslehrer und Leiter des Gemeindesekretariats in den Jahren 1930 -35.
Als Rabbiner der Gemeinde amtierten: Dr. Siegfried Alexander von 1921 bis 1924, Dr. Ernst I. Jacob von 1924 bis 1928, Dr. Friedrich Rülf von 1929 bis 1934 (er emigrierte am 10. Januar 1935 nach Palästina), Dr. Lothar Simon Rothschild von 1934 bis 1938.
Als Schochet, ritueller Schächter, fungierte Kantor Wolfermann und Herr David war Synagogendiener. Die Beerdigungsbruderschaft „Chaj Anoschim“ kümmerte sich um die rituelle Ausrichtung von Beerdigungen. Seit 1924 gab es einen jüdischen Kindergarten, der 1929 von der Königin-Louisenstr. 30 in die Nassauerstr. 6 umsiedelte und ab Herbst 1930 am Nachmittag auch als Kinderhort für schulpflichtige Kinder berufstätiger Eltern fungierte. Im Gemeindehaus war die Gemeindebibliothek untergebracht, die ab Januar 1930 einen Leihbetrieb anbot; Neuanschaffungen wurden regelmäßig im Nachrichtenblatt bekanntgegeben.
Den Religionsunterricht der Gemeinde besuchten um 1925 117 Kinder, im Schuljahr 1928/29 160 Kinder, 1931/32 sogar 310 Kinder der Gemeinde. In den 30er Jahren fand jeden Sabbatnachmittag ein Jugendgottesdienst für die Sechs- bis Achtzehnjährigen statt, der gut besucht wurde.
Von 1928 bis zum Frühjahr 1938 gab die Gemeinde ein zehn Mal im Jahr erscheinendes Nachrichtenblatt heraus.
Die Gemeinde war auch zugleich die örtliche Filiale der „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden“. Ferner gab es eine Durchwandererführsorge, einen Wohltätigkeitsverein, einen Frauenverein, eine Ortsgruppe des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, einen Ostjüdischen Verein, mehrere weitere kleine Vereine sowie Stiftungen, u.a. die Flora- und Sally-Weil-Stiftung, die Stipendien für die Berufsausbildung vergab. Die „Zionistische Ortsgruppe“ propagierte ab 1919 die Ansiedlung jüdischer Menschen in dem damaligen Palästina und sorgte für die Verbreitung des Gedankens eines eigenen jüdischen Staates. Für kulturelle Belange waren der „Jugendbund“ und der “Bund Gabriel Riesser“ zuständig, die regelmäßig zu Vorträgen mit renommierten auswärtigen Referenten (z.B. am 14. 01.1929 Martin Buber) einluden. Der „Bund jüdischer Pfadfinder“ sammelte die Jüngeren, um sie gleichermaßen mit der Natur und ihrem Judentum bekannt zu machen. Die Saarloge „B’nei Brith“ und ihre Schwestervereinigung dienten der geistigen und gesellschaftlichen Anregung in der Gemeinde.
Die Gemeindemitglieder waren größtenteils deutsche Juden. Sie gehörten zu einem großen Teil dem Bürgertum an und waren, Privatbankiers (wie die aus Saarlouis stammenden Gebrüder Myrtil und Leopold Lazar) Bankdirektoren, Kaufleute, vor allem in den Bereichen Textil-, Schuh-, Leder- und Warenhaushandel (Kaufhaus Wronker, E. Weil Söhne), sowie im Fleischhandel, Rechtsanwälte (Dr. Hugo Abraham, Präsident der Saarloge „B’nai Brith“, Paul Cohen, Mitglied der Casinogesellschaft u. des Saarbrücker Offiziersvereins, Dr. Karl Hirsch, Eduard Lehmann 1935 Stadtverordneter, Vorstandsmitglied der SPD/S, Armand (Hermann) Levi, Dr. Charles (Karl) Levy, Gustav Levy, Dr. Hans Levy, Dr. Otto Marx, Vorstandsmitglied der „Saarländischen Wirtschaftsvereinigung“, Dr. Friedrich Mayer-Alberti, Dr. Walter Sender, Mitglied des Saarländischen Landesrates und Fraktionsvorsitzender der SPD, Dr. Kurt Voß, Dr. Bruno Weil, Dr. Benny Weiler, Dr. Max Weiler, Siegfried Wertheimer), und Ärzte (Dr. Abel, Dr. Epstein, Dr. Ermann, Prof. Groß, Chefarzt im Bürgerhospital, Dr. Haymann, Dr. Isserlin, Dr. Levita, Prof. Lissauer, Frau Dr. Steinthal, Dr. Tuteur, Dr. E. Weiler, Dr. L. Weiler, Dr. Weinmann, Dr. A. Wertheimer und Dr. F. Wertheimer), Kinobesitzer (die Brüder John und Paul Davidsohn, die schon 1911 die Union-Theater-Lichtspiele und 1918 die Kammerlichtspiele eröffnet hatten), Leitende Angestellte am Stadttheater (Generalmusikdirektor Felix Lederer, Eric-Paul Stekel Komponist und Kapellmeister, Intendant Dr. Georg Pauly) oder im Ensemble als Musiker (Darius Strauss, Micha Rakier, Willi Speicher,) Sängerinnen (Cora Eppstein), oder Schauspieler (Manfred Wedlich, Leopold Horowitz, Hanna Kramer) aber es gab auch viele kleine Angestellte, Handelsvertreter und Handwerker, Serviertöchter, oder in sozialen Berufen Tätige, die ab 1931 wie ihre nicht-jüdischen Kollegen stark unter der Wirtschaftskrise zu leiden hatten. Mehrere Industriebetriebe waren von jüdischen Unternehmern aufgebaut worden, darunter chemische Fabriken und Tabakfabriken; zwei Hotels und eine Apotheke gehörten Juden. Zeitweise gab es drei koscher geführte Pensionen: in der zweiten Etage der Bahnhofstraße 91 (J. Süßmann), am Rathausplatz 6, 1. Etage (L. Ascher) und in der Nassauerstr. 11 (Marx); mehrere jüdische Metzgereien konkurrierten um die Gunst ihrer Kundschaft (Wwe. S. Bloch, Durlacher, Albert Levy, Wilhelm Salomon, Ury, H. Weißenberger, Adolf Wolf).
Manche säkularen Juden waren keine registrierten Mitglieder der Gemeinde und besuchten die Synagoge nur an den wichtigsten Feiertagen. Dennoch fühlten sie sich doch als dem Judentum zugehörig und leisteten auf ihre Weise wertvolle Beiträge zum wirtschaftlichen Aufschwung und zum kulturellen Leben Saarbrückens jener Jahre.
In der ersten Stadtverordnetenversammlung der Großstadt Saarbrücken waren einige Juden vertreten: die Kaufleute Salomon Israel und Isidor Köster; lange Jahre wirkten Rechtsanwalt Oskar Scheuer, Rechtsanwalt Eduard Lehmann und Landmesser Martin Mendelssohn in der Stadtvertretung.
Max Ophüls, der bedeutende Filmregisseur, wurde am 6. Mai 1902 in Saarbrücken als Max Oppenheimer geboren und verbrachte seine Kindheit und Jugend in der Försterstraße. Seine Eltern, der Kaufmann Leopold Oppenheimer und dessen Frau Helene, geborene Bamberger, waren gebildete Autodidakten mit lebhaftem Interesse an Literatur, Theater und Musik und sie erzogen ihren Sohn zu einem weltoffenen und geistig interessierten Menschen.
Manfred Kirchheimer, der Dokumentarfilmemacher, wurde am 2. März 1931 im St. Arnualer Heilig-Geist-Krankenhaus geboren, seine Eltern, Bert und Johanna Kirchheimer, wohnten damals bis zu ihrer Emigration 1936 in der Schmollerstraße 23. Der Vater arbeitete als Chefdekorateur im Kaufhaus E. Weil Söhne in der Bahnhofstrasse Ecke Futterstraße.
Die seit ca. 1890 zugezogenen osteuropäischen Juden bildeten wegen ihrer religiös-orthodoxen Grundeinstellung einen eigenen Verein und eine eigene Betgemeinschaft innerhalb der Gemeinde. Sie hatten ihren eigenen Betsaal in der St. Johannerstraße und ein Verbandslokal in der Bahnhofstraße 5. Auf ihre Initiative wurde ab 1932 auch eine Mikwe, ein rituelles Tauchbad, in der Breitestraße 29 eröffnet;1936 wurde das ostjüdische Betlokal “Ahawas Scholaum“ in das jüdische Gemeindehaus in der Futterstrasse verlegt. Die Ostjuden besuchten in der Regel nicht die Gottesdienste in der „Reformsynagoge“ Futterstrasse, wo am Sabbat im Gottesdienst Musik erklang, die – abgesehen vom Arbeitsverbot - nach orthodoxer Tradition aus Trauer über die Tempelzerstörung vom traditionellen Synagogengottesdienst verbannt worden war; darüber hinaus sangen im gemischten Chor auch Frauen, was nach orthodoxem Ritus auch nicht möglich ist. Allenfalls schickten sie ihre Kinder zum Jugendchor in die Synagoge. Zwischen den osteuropäischen und den „deutschen“, westlich orientierten Juden, existierte in Saarbrücken wie anderswo eine soziokulturelle Trennung. Die Juden aus Ost- und Mitteleuropa, sie stammten vornehmlich aus Polen, Galizien und Tschechien und waren vor den dortigen Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung geflohen, waren weniger in die umgebende Gesellschaft integriert und größtenteils noch streng orthodox praktizierend; sie sprachen häufig nur Jiddisch und selbst die nicht mehr streng Praktizierenden hatten durch ihre Erziehung große Kenntnisse im religiösen Bereich und beherrschten das Hebräische. Dies war dem Umstand geschuldet, dass sich schon nach den Kreuzzugspogromen des 11. und 12 Jahrhunderts, verstärkt aber nach den Pestpogromen des 14. Jahrhunderts, Juden von Deutschland und Frankreich nach Polen ausgewandert waren, wo sie von der großzügigen Niederlassungspolitik der polnischen Könige profitierten. Die geistigen und geistlichen jüdischen Zentren verlagerten sich damit von Deutschland und Frankreich nach Osteuropa, wo in den Talmudschulen, den Jeschiwot, jüdische Gelehrsamkeit blühte. Nicht selten gab es in der älteren Generation der zugewanderten Ostjuden daher Männer, die, ohne davon beruflich Gebrauch zu machen, im Besitz eines Rabbinerdiploms waren. Die „Ostjuden“ waren, allgemein gesagt, in viel höherem Maße traditionell jüdisch und religiös gebildet als ihre oft stark assimilierten und säkularisierten westlichen Brüder und Schwestern.
Wirtschaftlich war ihre Situation meist prekär und viele standen häufig am Rande der Armut. Während das arrivierte deutsch-jüdische Saarbrücker Bürgertum sich Villen am vornehmen Eichhornstaden, um die Christ-König-Kirche und am Triller bauen ließ, wohnten die Ostjuden eher in Malstatt, Alt-Saarbrücken, auf der Bellevue und um den Saarbrücker Bahnhof (Sophienstraße) zur Miete, also in den ärmeren, volkstümlichen Stadtteilen, wo auch die weniger betuchten, alteingesessenen saarländischen Juden und ihre christlichen Volksgenossen lebten. Infolge der kulturellen und sozialen Unterschiede gab es zwischen West- und Ostjuden nach beiden Seiten eine gewisse, von Ressentiments genährte Distanz, die in Saarbrücken, dank des toleranten Klimas, das unter Rabbiner Rülf in der Gemeinde vorherrschte, nicht zu religiösen oder anderen Streitigkeiten führte. Für die Ostjuden mangelte es den deutschen Juden an „Jiddischkeit“, während den deutschen Juden ihre osteuropäischen Brüder „rückständig“ erschienen. Die Ostjuden waren in jenen Jahren für die verbürgerlichten deutschen Juden eine permanente Quelle von Peinlichkeit und Beschämung: nach innen, weil sie ihnen ihre teilweise Entfremdung von der religiösen Tradition und ihren Mangel an religiösem Wissen ständig vor Augen führten, und nach außen, weil die deutschen Juden befürchteten, von der christlichen Umwelt mit den äußerlich nach der Kleidung eher auffälligen, proletarischen und „fremden“ „Kaftanjuden“ in einen Topf geworfen und wie diese abfällig eingeschätzt zu werden, was ihre in den letzten Jahrzehnten seit der Emanzipation mühsam erkämpfte Akzeptanz hätte gefährden können. Man verkehrte hier wie dort meist nur unter sich und heiratete fast nur untereinander. „Mischehen“ zwischen deutschstämmigen „Jeckes“ und „Polischen“ waren die große Ausnahme.
Die meisten deutschen Juden verstanden sich als deutsche Patrioten. Im Ersten Weltkrieg waren 28 Männer aus der jüdischen Gemeinde Saarbrücken gefallen, in anderen saarländischen Gemeinden waren die Zahlen der Gefallenen vergleichbar. Viele, die den Krieg überlebt hatten, waren mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Sie konnten sich in den Jahren des aufkommenden Nationalsozialismus nicht vorstellen, dass sie, als ehemalige Kämpfer für Deutschland, von einer deutschen Regierung missachtet würden, und hofften, dass der “Spuk“ bald vorübergehen würde. In Saarbrücken gab es eine Ortsgruppe des „Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten“. An der allgemeinen Gedenkfeier für die Opfer des ersten Weltkrieges auf dem Ehrenfriedhof am Volkstrauertag, der seit 1922 jährlich fünf Wochen vor dem christlichen Osterfest durchgeführt wurde, nahm auch der jeweilige Saarbrücker Rabbiner mit einer Ansprache teil und in der Synagoge wurde jährlich ein Gedächtnisgottesdienst abgehalten.
Die Saarbrücker Juden waren größtenteils gut in die Mehrheitsgesellschaft integriert: bei der abendlichen Feier für Gemeindemitglieder und Gäste am Einweihungstag der Synagoge wurde die Musik von der Kapelle des Königl. 8. Rhein. Infanterie-Regimentes Nr.70 ausgeführt. Mehrere Gemeindemitglieder sangen oder musizierten in lokalen Vereinen.
Auch gab es bis 1930 kaum antisemitische Anfeindungen, sieht man von den Vorgängen im Zusammenhang mit dem Generalstreik im Oktober 1919 ab. Am 7. Oktober wurde ein Generalstreik ausgerufen. Nach einer Arbeiterdemonstration auf dem Schlossplatz kam es zu Plünderungen von Schuh- und Textilgeschäften, vor allem in der Bahnhof- und Kaiserstraße, hier waren insbesondere jüdische Geschäfte die Zielscheibe der Plünderer, die brutal vorgingen und Schaufenster einschlugen.
Im Januar 1932 überfielen 7 Nazis die jüdische Pension und koschere Speisegaststätte Süßmann in der Bahnhofstraße 91 mit dem Ruf:“ Wo sind die Juden? Heute wird hier aufgeräumt!“. Sie konnten jedoch vom Inhaber vertrieben werden.
Bereits im Mai 1933 – unter dem Eindruck des Boykotts jüdischer Geschäfte im Deutschen Reich am 1. April – verließen die ersten saarländischen jüdischen Familien ihre Heimat; bis Mitte 1935 hatten schon 750 Jüdische Menschen Saarbrücken verlassen. Zielländer waren vor allem Frankreich und Luxemburg.